Bargeld statt


Wertgutscheine

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Der Göttinger Ratsbeschluss vom 09.02.2007 im Wortlaut:
(siehe auch die gescannte Niederschrift der Ratssitzung)



Interfraktioneller Antrag der Fraktionen Gö LINKE, Bündnis 90/Die GRÜNEN, SPD, und FDP zur Sitzung des Rates am 09. Februar 2007


"Wertgutscheine abschaffen"

Der Rat möge beschließen:

Die Ausgabe der Leistungen nach dem AsylbLG in Form von Wertgutscheinen stellt eine für die Betroffenen diskriminierende und bevormundende Praxis dar.
  1. Aus diesem Grunde lehnt der Rat der Stadt Göttingen das Gutscheinsystem für Flüchtlinge ab und setzt sich aktiv für die Wiedereinführung der Bargeldausgabe ein.
  2. Die Verwaltung wird beauftragt sich bei der Landesregierung und auf dem Deutschen- und Niedersächsischen Städtetag für die Rücknahme der Erlasse des Innenministeriums vom 28.07.1997 und 31.07.1997 einzusetzen, damit die Wertgutscheine grundsätzlich abgeschafft werden können.

  3. Darüber hinaus wird die Verwaltung beauftragt, den juristischen Stellenwert der Erlasse des Innenministeriums vom 28.07.97 und 31.07.97 bzgl. der Ausgabe von Bargeld an Flüchtlinge zu prüfen und dem Rat der Stadt Göttingen über die rechtliche Bindung der Weisung, Wertgutscheine auszugeben, Bericht zu erstatten und ggf. Klagemöglichkeiten aufzuzeigen.

  4. (zurückgezogen)

  5. Unabhängig davon wird die Verwaltung beauftragt, eine Regelung mit der Firma SodexhoPass zu treffen, die es den Flüchtlingen ermöglicht, sich bei ihren Einkäufen mit Wertgutscheinen von Dritten vertreten zu lassen.

  6. Die unterstützenden Fraktionen im Rat der Stadt Göttingen erklären, dass sie sich in ihren Parteien landesweit für die Unterstützung der "Göttinger Resolution zur Abschaffung des Gutscheinsystems" einsetzen.



Begründung:
Die Gutscheinregelung ist diskriminierend. Sie bedeutet für die Betroffenen Bevormundung, Demütigung und Stigmatisierung.
In einem Europa, das immer weiter zusammen wachsen soll, ist es in einem sozialen Rechtssystem und in einer weltoffenen Stadt wie Göttingen nicht hinnehmbar, dass Menschen, die in ihren Herkunftsländern verfolgt werden hier einer weiteren Diskriminierung unterliegen. Immer wieder berichten Flüchtlinge von offenen Anfeindungen und ausländerInnenfeindlichen Bemerkungen beim Einkauf mit Wertgutscheinen. Für Flüchtlinge ist es nicht möglich, mit den 40 Euro, die ihnen monatlich in Bargeld zur Verfügung stehen, ihren sonstigen Lebensbedarf zu decken, denn neben Energie- und Telefonrechnungen müssen zum Beispiel Fahrkarten und Ausgaben für die Schule bar beglichen werden. Auch die für das Asylverfahren und die Sicherung des Aufenthaltes von MigrantInnen unverzichtbare Inanspruchnahme eineR RechtsanwältIn kann nicht mit Gutschein bezahlt werden. Strittig ist auch immer wieder, welche Artikel mit Gutscheinen gekauft werden dürfen, beispielsweise welche Hygieneartikel oder Verhütungsmittel. Die KassiererInnen entscheiden nicht selten willkürlich und setzen die Anweisung auf dem Gutschein restriktiv um. Oft gibt es Ärger mit der Herausgabe von Wechselgeld. Für die Betroffenen ist der Einkauf deshalb eine deklassierende und erniedrigende Erfahrung.
Die Gutscheinregelung bereitet der Stadt erhebliche Mehrkosten durch einen gegenüber der Bargeldausgabe deutlich größeren Verwaltungsaufwand. Allein für die Bereitstellung der Gutscheine überweist die Stadt Göttingen der Firma Sodexho Pass GmbH jährlich eine derzeit vierstelligen Betrag.
Das Gutscheinsystem stellt zudem einen erheblichen Eingriff in die Geschäftsfreiheit der Göttinger EinzelhändlerInnen dar. Sie können Flüchtlinge nur dann zu ihren KundInnen zählen, wenn sie bereit sind, einen Vertrag zu Gunsten der Firma Sodexho Pass GmbH zu schließen. Darin verpflichten sie sich, Gebühren von bis zu 3,5% plus Mehrwertsteuer auf die abgerechneten Gutscheine an das Dienstleistungsunternehmen zu zahlen. Hinzu kommt ein erheblicher Verwaltungsaufwand, verspäteter Geldeingang sowie die Verpflichtung, die Einkaufenden zu kontrollieren. Die EinzelhändlerInnen müssen die Waren ihrer KundInnen überprüfen, dürfen nur bestimmte Dinge gegen Gutscheine abgeben und maximal 10% Wechselgeld aushändigen. Ebenfalls problematisch ist es, die allgemein üblichen Regelungen des Warenumtauschs, denjenigen KundInnen zu ermöglichen, die mit Gutscheinen bezahlt haben.
Die Rücknahme der genannten Erlasse würde die Abschaffung des Gutscheinsystems in Göttingen und allen anderen Niedersächsischen Kommunen vereinfachen, da ihnen sodann die Entscheidung obliegen würde, Leistungen nach dem AsylbLG in Bargeld zu gewähren. Alle Nachbarländer Niedersachsens verzichten inzwischen auf ähnliche Weisungen ihrer Kommunen ­ in Hessen, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern wird flächendeckend Bargeld ausgegeben.
Es ist zudem absurd, wenn Kommunen immer wieder von ihren Aufsichtsbehörden zu Einsparmaßnahmen verpflichtet, aber gleichzeitig durch derartige Vorgaben zu leicht vermeidbaren Ausgaben gezwungen werden. Diese Kosten können eingespart und beispielsweise für dringende Integrationsmaßnahmen eingesetzt werden.
Gemäß der genannten Erlasse sollen Leistungen nach dem AsylbLG in Niedersachsen vorrangig in Wertgutscheinen ausgegeben werden. Es ist zu prüfen, ob und wenn ja auf welcher rechtlichen Grundlage es für Niedersächsische Kommunen ­ wenn auch nachrangig ­ so aber doch möglich ist, Bargeld statt Gutscheine auszugeben. Da es sich bei den fraglichen Erlassen zudem um knapp zehn Jahre alte Beschlüsse handelt, muss untersucht werden, in wie weit die Gründe, die damals zu den Erlassen geführt haben, heute in gleicher Weise bestehen. Dabei sind sowohl die Erfahrungen zu berücksichtigen, die in der Zwischenzeit mit dem Gutscheinsystem gemacht wurden als auch die Beweggründe zahlreicher anderer Bundesländer und Kommunen, die dort zur Wiedereinführung von Bargeldzahlungen geführt haben.



Anmerkung: Der erste der in Punkt 3 und 4 bezeichneten Erlasse ist eigentlich auf den 28.05.97 datiert.