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zuletzt aktualisiert am 17. Mai 2007
Zur Rechtslage in Göttingen:
Zur rechtlichen Begründung dieses Gutscheinsystems verwiesen KommunalpolitikerInnen
und Verwaltung in der Vergangenheit stets auf Erlasse des Landes Niedersachsen aus
dem Jahre 1997, mit denen die kommunale Umsetzung des AsylbLG geregelt werden sollte
(insbesondere auf den
Erlass vom 31.7.1997).
Wie mittlerweile von der Verwaltung des Landkreises Göttingen bestätigt, sind diese
Erlasse aufgrund eines gemeinsamen Runderlasses der Niedersächsischen Staatskanzlei
und der Landesministerien (VORIS 20160 vom 1.2.2004, Abschnitt 6
mittlerweile neugefasst) seit 1.1.2005 außer Kraft. Das Bundesrecht
konkretisierende oder einschränkende Vorschriften existieren in Niedersachsen seit dem
nicht mehr.
Die für die Form der Grundleistungen maßgebliche Passage des
AsylbLG
in §3 Abs. 2 wurde im Zuge der am 1.6.1997 in Kraft getretenen 1. Novelle des
AsylbLG geändert. Der Wortlaut des Gesetzes lautet:
"Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne
des §44 des Asylverfahrensgesetzes können, soweit es nach den Umständen
erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Absatz
1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren
Abrechnungen oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden."
Bei der Auslegung dieser Vorschrift wird in der Fachliteratur gemeinhin zwischen den Fragen unterschieden, ob dem Gesetz
- ein genereller Sachleistungsvorrang
entnommen werden kann und ob
- sich ein Rangverhältnis der
Alternativleistungsformen ergibt.
"Bei einer Unterbringung außerhalb von
- Aufnahmeeinrichtungen im Sinne
des § 44 des Asylverfahrensgesetzes oder
- anderen Einrichtungen, in denen
Sachleistungen nach Absatz 1 erbracht
werden (vergleichbare Einrichtungen),
können, soweit es nach den Umständen der Unterbringung oder der örtlichen
Gegebenheiten erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen
nach Absatz 1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren
unbaren Abrechnungen oder, wenn besondere Umstände der Aushändigung von
Wertgutscheinen oder anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen entgegenstehen, im
gleichen Wert auch Geldleistungen gewährt werden."
Offensichtlich wurde durch die Novellierung des AsylbLG im Jahr 1997 der Spielraum
der zuständigen Behörden erheblich erweitert. So stellte dann auch das
Niedersächische Innenministerium in einem der oben bereits erwähnten,
mittlerweile ungültig gewordenen Erlasse vom 28.5.1997 fest:
"Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen i.S.
des §44 AsylVfG sieht §3 Abs. 2 wie bisher den Vorrang von Sachleistungen
vor. Allerdings können künftig unter erleichterten Voraussetzungen
Leistungen in Form von
- Wertgutscheinen,
- anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder
- Geldleistungen
gewährt werden.
War dies bisher nur zulässig, "soweit es nach dem Umständen der
Unterbringung oder den örtlichen Gegebenheiten erforderlich ist", genügt es
künftig, dass es "nach den Umständen erforderlich" ist.
Zudem ist die bisherige weitere Rangfolge (Geldleistungen nur dann, "wenn
besondere Umstände der Aushändigung von Wertgutscheinen
oder anderen unbaren Abrechnungen entgegenstehen") entfallen."
Ganz ähnlich fällt dann auch der Kommentar zum AsylbLG von Fichtner/Wenzel aus:
"der Vorrang der Sachleistungen bleibt bestehen (aA Birk in Birk in: LPK-BSGH Anhang
ii §3 AsylbLG Rnr 9) und die andere Form der Leistungsgewährung muss den Umständen
nach erforderlich sein. Zwischen den sonstigen Formen der Leistungsgewährung: Wertgutscheine,
vergleichbare unbare Abrechnungen wie Kundenkontoblätter oder Punktekontensystem und
Geldleistungen besteht kein Rangverhältnis (so auch Birk aaO; aA Hohm. GK-AsylbLG III §3
Rnr 73ff; Deibel ZAR 98, 28ff; VG Karlsruhe 13.7.01 zitiert nach juris). Weder der Wortlaut
noch die Entstehungsgeschichte geben für die Annahme einer Rangfolge etwas her. Die
vorhergehende Fassung des §3 enthielt einen doppelten Nachrang der Geldleistung
gegenüber der Sachleistung und gegenüber anderen unbaren Leistungssystemen.
Dieser doppelte Nachrang ist durch das 2. ÄnderungsG aufgehoben worden. Dies spricht
dafür, dass der Gesetzgeber den Spielraum vergrößern wollte.
Das Abweichen von der Sachleistung muss nach Umständen erforderlich sein. Gründe,
die eine andere Leistungsform erforderlich machen, können sowohl aus der persönlichen
Situation des Leistungsberechtigten als auch aus den örtlichen Gegebenheiten
(zB unverhältnismäßiger Kostenaufwand für wenige Leistungsberechtigte)
folgen. Die gegenteilige Auffassung des Landes Berlin (Rundschreiben VII Nr 15/1997, 3.,
abgedruckt in GK-AsylbLG IV-3.4.), der Wegfall des Tatbestandsmerkmal örtliche
Umstände bedeute, dass nur noch die besonderen Umstände des Einzelfalls (zB Krankheit,
Anzahl der Familienmitglieder, Allein Erziehende, Schwangerschaft) berücksichtigt
werden können und nicht verwaltungsökonomische Gesichtspunkte, überzeugt
nicht."
Der Kommentar von Birk interpretiert
die Änderung des AsylbLG von 1997 sogar als
Abschaffung des Sachleistungsvorrangs:
"Gemäß Abs. 2 Satz 1 können anstelle der Sachleistungen auch
Wertgutscheine oder Geldleistungen gewährt werden. (...) Die Alternativen Sachleistung
oder Geldleistung sind gleichwertig, es gibt kein Pimat des Sachleistungsprinzip
mehr (a.A. Deibel ZAR 1998, 28, 30; VG Karlsruhe Az: 8 K 3499/99). Die Entscheidung
liegt im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde, wobei
Entscheidungskriterien z.B. organisatorische Schwierigkeiten bei der Umsetzung des
Sachleistungsprinzips oder beim Eintausch von Wertgutscheinen, ein individueller
Ernährungsbedarf (z.B. bei Krankheit, Schwangerschaft)
unverhältnismäßiger Kostenaufwand für Sachleistungen für nur
wenige Flüchtlinge oder nur eine kurze Übergangszeit sein können."
Im Kommentar von Hohm wird davon abweichend die Ansicht vertreten, aus §3
Absatz 2 AsylbLG ergebe sich ein Rangverhältnis der Alternativleistungsformen:
"Aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 2 S. 1 AsylbLG (Nennung der drei möglichen
Ersatzformen in einer bestimmten Reihenfolge, unterschiedliche Nähe zum Sachleistungsprinzip
und Verknüpfung der Ersatzform jeweils durch das Bindewort >oder<), seiner
Entstehungsgeschichte (Straffung des Abs. 2 S. 1 unter gleichzeitiger Fortgeltung der
Kerngedanken des AsylbLG, vgl. BT-Drucks. 13/2746, S. 1 f.; hierauf ebenfalls abstellend
VG Karlsruhe, U. v. 13.7.2001 – 8 K 3499 / 99 – abgedr. unter VII – zu § 3 Abs.2
[VG-Nr. 9]), der Gesetzessystematik und der ratio legis des Prinzips der vorrangigen
Sachleistungsgewährung kann entnommen werden, dass die in Abs. 2 S. 1 genannten
drei Ersatzformen der Leistungsgewährung nicht gleichrangig, sondern in einem
bestimmten Verhältnis zueinander stehen.
Dieses gesetzlich bestimmte Rangverhältnis gibt vor, dass an Stelle der
Gewährung von Sachleistungen zunächst >Wertgutscheine< zur Bedarfsdeckung
eingesetzt werden können, sodann können >andere vergleichbare unbare
Abrechnungen< gewählt werden und erst dann, wenn die beiden vorrangig genannten
Ersatzformen unter Beachtung des sie ebenfalls prägenden Rangverhältnisses
ausscheiden, kann auf >Geldleistungen< zurückgegriffen werden;
diese sollen mithin auch bei der Unterbringung außerhalb von
Aufnahmeeinrichtungen i. S. d. § 44 AsylVfG die seltene Ausnahme bleiben."
Da es sprachlich nicht möglich ist mehrere Dinge zu benennen ohne dies in irgendeiner
Weise nacheinander und damit in einer bestimmten Reihenfolge zu tun, argumentiert Hohm nicht
schlüssig, wenn er aus dem bloßen Vorhandensein einer textlichen Reihenfolge auf
eine inhaltliche Rangfolge der drei Alternativleistungsformen schließt. Auch dass dem
Bindewort "oder" im Kontext von §3 Absatz 2 AsylbLG eine andere Bedeutung
zukommen soll als im alltäglichen sowie mathematisch-logischen Sprachgebrauch, vermag
nicht zu überzeugen. Die aufmerksame Leserin wird überdies feststellen, dass sich
entgegen der Darstellung Hohms in der indizierten BT-Drucksache keinerlei Hinweise darauf
finden, dass die durch die Änderung des AsylbLG 1997 erfolgte Herausnahme des Nachrangs
der Geldleistung gegenüber den beiden anderen Alternativleistungsformen aus §3 Absatz
2 lediglich der textlichen Straffung dienen und keinerlei inhaltliche Änderung
entfalten sollte.
Vielmehr müsste eine Betrachtung von §3 Absatz 2 AsylbLG im Kontext
höherrangigen Rechts, speziell der Grundrechte, sogar dazu führen, bei den
Ersatzformen die Geldleistungen als vorrangig anzusehen. Denn auch bei der Gewährung
von Wertgutscheinen oder sonstigen unbaren Abrechnungen an Leistungsberechtigte wird deren
Grundrechten, insbesondere dem Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum, nur sehr
begrenzt Rechnung getragen werden können. Weitere verfassungsmäßige Aspekte,
die ein großzügiges Abweichen von der Sachleistungsgewährung zugunsten von
Geldleistungen geboten erscheinen lassen, sind unter anderem das Grundrecht auf Wahrung
der Menschenwürde, das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit,
der Gleichheitsgrundsatz, das Grundrecht der Informationsfreiheit
und der Religionsfreiheit. (vgl. Gutachten von Rechtsanwältin Lederer)
Letztlich ist mittelbar auch der Grundsatz der Gewährung effektiven
Rechtsschutzes betroffen. Damit Leistungsberechtigte effektiven Rechtsschutz nicht nur
formell, sondern auch inhaltlich erlangen
können, sind sie auf eine Vertretung durch - im Normalfall selbst zu bezahlende -
RechtsanwältInnen und die Möglichkeit angewiesen, fremdsprachige Urkunden und
sonstige Beweismittel etwa für das Asylklageverfahren auf eigene Kosten übersetzen
lassen zu können. (vgl. ebenfalls Lederer)
Zudem wird ein Einkauf mit Wertgutscheinen von den Betroffenen häufig und nicht ohne
Grund als Diskriminierung und Bevormundung empfunden.
Weitere Umstände, die eine grundsätzliche Ermessensentscheidung zu Gunsten
von Geldleistungen rechtfertigen:
- Das Gutscheinsystem bedeutet für die zuständigen Behörden erhebliche
Mehrkosten durch einen gegenüber der Bargeldausgabe deutlich größeren
Verwaltungsaufwand. (vgl. Rödl-Gutachten, Seite 8 der Stadt Münster, das
dort letztlich die Abschaffung des Gutscheinsystems motivierte.)
- Weiterhin besteht bei Geldleistungen nicht, wie bei Gutscheinen, die Gefahr,
dass Dritte die prekäre Lage der Flüchtlinge zum Beispiel durch Einbehalten
von Wechselgeld, durch Bargeldauszahlung eines Betrages unterhalb des Nennwertes der
Gutscheine oder durch erhöhte Verkaufspreise beim Bezahlen mit Gutscheinen ausnutzen.
Die Entscheidung über die Form der in Göttingen ausgegebenen Leistungen
nach dem AsylbLG obliegt den kommunalen Behörden. Dies wird nicht zuletzt
in einem Schreiben des Niedersächsischen Innenministeriums vom 11.05.2007 an
die Stadt Göttingen ausdrücklich betont. Darin heißt es:
"Die Entscheidung darüber, welche der im Gesetz genannten Leistungsformen
für die Versorgung der außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen untergebrachten
leistungsberechtigten Personen nach den Umständen des Einzelfalles erforderlich ist,
trifft die das AsylbLG ausführende Behörde, denn sie ist mit den örtlichen
Gegebenheiten und den sonstigen Besonderheiten des Einfalles [gemeint ist wohl "des
Einzelfalls"] am besten vertraut."
Der Rat der Stadt sowie der Kreistag des Landkreises Göttingen lehnen mit
Beschlüssen vom 09.02.2007 bzw. 09.05.2007 übereinstimmend das Gutscheinsystem
ab und haben sich für die Einführung von Bargeld entschlossen.
Die Verwaltungen von Stadt und Landkreis weigern sich bisweilen jedoch, die Beschlüsse
ihrer Parlamente umzusetzen. Das heißt Flüchtlinge erhalten derzeit
weiterhin die ihnen zustehenden Leistungen in Form von Gutscheinen.
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